Ein Lehrfach an der Quadriga, das ich verantworte, ist das Wissensmanagement. Unternehmen agieren heute auf wissensintensiven Märkten, und überlegenes Wissen ist längst zum Wettbewerbsvorteil geworden. Dies gilt für Unternehmen, aber auch für politische Organisationen und in gewisser Hinsicht sogar für Städte und ganze Länder.
Viele Disziplinen, Positionen, Erkenntnisse – viele suboptimale Entscheidungen
Aus der Perspektive der Wissensgesellschaft leben wir momentan in dramatischen Zeiten. Nie zuvor hat die Gesellschaft sich so intensiv mit Naturwissenschaft, genauer gesagt mit einem Teilbereich der Naturwissenschaft befasst wie momentan. Die Virologie wurde durch Corona zur akademischen Leitdisziplin – und zum medialen Dauerphänomen. Zugleich muss sich die Politik immer wieder dem (schwierigen) Umgang mit den Erkenntnissen dieses Wissenszweiges widmen. Und zwar, während diese Erkenntnisse permanent aktualisiert werden.
Die Politik muss dabei nicht nur „der Wissenschaft“ zuhören, sondern die Positionen unterschiedlicher Wissenschaftler*innen gegeneinander abwägen, Stichwort Drosten gegen Streeck. Und sie muss unterschiedliche Wissensdisziplinen gegeneinander abwägen – und in dieser komplexen Lage permanent Entscheidungen treffen. Aus der Perspektive der einzelnen konkreten Disziplin – der Virologie, der Sozialpsychologie oder der Volkswirtschaft – können diese Entscheidungen nur suboptimal erscheinen.
Mehr Wissen über Unwissen wagen
Logisch, dass auch Wissensmanagement-Denker*innen die Pandemie intensiv untersuchen. Erste Papers wurden veröffentlicht. Nicole und George Tovstiga etwa erörtern die wissensrelevanten Prozesse der vergangenen Monate anhand eines Klassikers des Wissensmanagement, der „Four Stages of Competence“. Kernaussage dieses Modells: Schon das Wissen über das eigene Unwissen muss erstmal generiert werden. Nicht zu wissen, was man nicht weiß, ist der dramatischste aller Inkompetenz-Zustände.
In den Modellen der Wissenschaftler*innen liest sich der Prozess der Wissensgenerierung als linearer, an dessen Ende man weiß, dass man weiß, was man wissen sollte. Davon sind wir in Sachen Corona weit entfernt. Das ist ein Problem der Politik. Ein anderes: dass wir es mit völlig unterschiedlichen Arten Wissen zu tun haben. So würde niemand in Abrede stellen, dass die involvierten Virologen wissen, wovon sie in Sachen Virus sprechen. Weder Drosten noch Streeck sind Scharlatane – selbst scharfe Kritiker*innen des einen oder anderen würden das nicht behaupten.
Was ihnen jeweils vorgeworfen wird, ist die fachbezogene Grenzüberschreitung – und ein jeweils zu starker Einfluss auf politisches Handeln (Drosten) oder kursierende politische Meinungen (Streeck). Beide dürften von der Vehemenz, mit der ihre Rolle im Prozess der Wissensvermittlung in Richtung Politik und Öffentlichkeit kritisiert wird, überrascht sein.
Nichts ist alternativlos
Wenn wir aber mal (so crazy das auch klingt) über die aktuelle pandemische Lage hinaus denken, so stellt sich die Frage, was wir als (Wissens-)Gesellschaft aus unserem Umgang mit wissenschaftlichem Wissen in Zeiten von Corona lernen. Ein Thema in diesem Kontext ist sicher, Wissenschaftler*innen ihre Rolle in der Politikberatung zuzugestehen, ohne aber den Eindruck zu erwecken, dass Politik sich von ihnen Handlungen diktieren lässt.
Das bestehende Vermittlungssystem muss sich sozusagen selber besser erklären. Die Politik ihrerseits sollte aufhören, Politik, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, als „alternativlos“ zu deklarieren. Politik ist immer das Handeln in komplexen Kontexten, insofern aber auch das Handeln IN Alternativen – auch wenn sie auf wissenschaftlicher Beratung basiert.
Zugleich sollte (und wird vermutlich) auch grundlegend reflektiert werden, wie der wissenschaftliche Kompetenzaufbau politischen Handelns ausgestaltet wird. Wenn etwa ein Ministerpräsident einen Wissenschaftler unter großer medialer Aufmerksamkeit aus einem Beratergremium ausschließt, dann sieht das natürlich ein bisschen nach Trickserei aus. Ob es das war oder ob es im Sinne der Wissensgenerierung hierfür Gründe gab, mag ich nicht beurteilen. Es lohnt sich aber auf jeden Fall, die Effizienz der Schnittstellen zwischen Politik und wissenschaftlicher Expertise in Ruhe zu reflektieren. Nach Corona. Meine nächste Lehrveranstaltung zum Wissensmanagement ist zum Glück noch etwas hin.
Der Autor
Seit 2013 ist Alexander Gutzmer Professor für Medien und Kommunikation an der Quadriga Hochschule Berlin. Der promovierte Kulturwissenschaftler und Diplom-Betriebswirt ist hauptberuflich als Direktor Marketing & Kommunikation des Münchner Immobilienentwickler Euroboden tätig. Mehr zu seiner Person und seinen Publikationen erfahren Sie über sein Quadriga-Profil sowie seine LinkedIn-Seite.
Seit 2013 ist Alexander Gutzmer Professor für Medien und Kommunikation an der Quadriga Hochschule Berlin. Von 2017 bis 2018 war er darüber hinaus Gastprofessor an der mexikanischen Business School Tecnológico de Monterrey. Der promovierte Kulturwissenschaftler und Diplom-Betriebswirt arbeitete außerdem als Editorial Director und Erster Journalist des Hauses beim Münchner Callwey-Verlag. Dort verantwortete er die Architekturzeitschrift Baumeister und die englischsprachige Zeitschrift für Urban Design und Stadtentwicklung Topos. Nun ist er Direktor Marketing & Kommunikation des Münchner Immobilienentwickler Euroboden. Gutzmer wurde am Londoner Goldsmiths College (University of London) als Doctor of Philosophy promoviert. Er studierte Kulturwissenschaften (ebenfalls am Goldsmiths College) sowie zuvor BWL (an der FU Berlin und der Warwick Business School). Den Einstieg in den Beruf des Journalisten fand er in der Redaktion der Welt am Sonntag.