“Everything is vague to a degree you do not realize till you have tried to make it precise.”
(Bertrand Russell)
Mir gefällt dieses Zitat so gut, weil einem leider ständig klar wird, dass der Verfasser Recht hatte. Nicht zuletzt in den Fächern, mit denen wir uns an einer Business School befassen, nutzen wir ständig Begriffe, die bei näherem Hinsehen nicht wirklich scharf definiert sind. Das betrifft zum Beispiel ein ganzes Fach, das ich an der Quadriga Hochschule unterrichte: Corporate Governance. Was genau ist das eigentlich? Kurz gesagt geht es dabei um den normativen Rahmen für die Unternehmensleitung und -kontrolle.
Unternehmensleitung und -kontrolle sind auch die beiden Stichworte, um die sich dieser Impuls dreht. Im deutschen System der Corporate Governance sind diese beiden Aufgabenfelder in der aktienrechtlichen Unternehmensverfassung zwei verschiedenen Organen zugeordnet: dem Vorstand obliegt die Leitung, dem Aufsichtsrat die Überwachung. Das klingt eigentlich nach einer glasklaren Aufgabenteilung. Eigentlich…, denn „everything is vague…“.
Die Rollenabgrenzung war nie wirklich klar
Unternimmt man einmal den Versuch, die rechtlichen Vorgaben zur Rollenabgrenzung auf den Prozess unternehmerischer Entscheidungen zu übertragen, wird schnell deutlich, dass die Trennung von Leitung und Überwachung gar nicht so klar ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Beispiel: Kontrolliert der Aufsichtsrat wirklich nur, welche der Ziele der Vorstand setzt? Oder beeinflusst er diese (etwa qua seiner Vergütungskompetenz) nicht auch? Ist Kontrolle wirklich nur eine Aufgabe des Aufsichtsrats – oder muss nicht auch der Vorstand den Erfolg seiner Maßnahmen überwachen? Über einzelne Begriffe hinaus fehlt es an einer genauen „Stellenbeschreibung“ für die beiden Organe.
Ist der Aufsichtsrat wirklich ein „Berater“ des Vorstands?
Der Deutsche Corporate Governance Kodex führt aus, dass der Aufsichtsrat den Vorstand bei der Leitung des Unternehmens überwacht und berät und in Entscheidungen von grundlegender Bedeutung einzubinden ist. Über die vielen Jahre intensiver Auseinandersetzung über „good governance“ wurde daraus immer mehr das Credo abgeleitet, dass die Rolle des Aufsichtsrats an strategischer Bedeutung gewonnen hat. Die prinzipielle Intention dahinter ist nachvollziehbar und richtig: Früher waren Aufsichtsräte häufig viel zu weit vom unternehmerischen Geschehen distanziert. Als Folge nahm man von ihnen weder Aufsicht noch Rat wahr; Vorstandsentscheidungen wurden eher unkritisch durchgewunken. Im Zuge jüngerer Fehlentwicklungen wie etwa beim Finanzdienstleister Wirecard wurde auch nach der Verantwortung des Aufsichtsrats gefragt.
Die Folge dieser Entwicklungen: Eine stärkere Einbindung des Aufsichtsrats in unternehmerische Entscheidungen war beabsichtigt. Inzwischen ist nun aber zu lesen, der Aufsichtsrat sei Co-Unternehmer, übe sich in beratender Begleitung und sei Partner des Vorstands. Das Problem: Die vermeintlich klare Arbeitsteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat verwischt zunehmend; de facto scheint man es mitunter schon mit einem Board-Modell zu tun zu haben.
Insbesondere der Begriff der „Beratung“ hat in diesem Kontext für viel Verwirrung gesorgt. Manche Aufsichtsräte scheinen den gestiegenen Einfluss zu genießen. Aber hier ist Vorsicht geboten: Wer trägt am Ende eigentlich wofür Verantwortung? „Beratung“ darf hier nicht fehlinterpretiert werden im Sinne einer managementorientierten Unterstützungsleistung. Richtig verstanden geht es um eine strategische Überwachung. Diese aber ist eben weit mehr als eine ex post-Kontrolle, weil sie schon früh im Entscheidungsprozess einsetzt. Und diesem Einfluss kann der Aufsichtsrat zum Beispiel durch Zustimmungsvorbehalte auch Geltung verschaffen. Der Zweck besteht allerdings nicht darin, dass der Aufsichtsrat Aufgaben des Vorstands übernimmt oder seine eigenen strategischen Auffassungen durchsetzt. Das unternehmerische Epizentrum bleibt der Vorstand.
Fazit: Komplementäre Qualitätssicherungsfunktion des Aufsichtsrats
Ein sinnvolles Kompetenzprofil des Aufsichtsrats versteht ihn als „strategischen Auditor“, der die Qualität der strategischen Entscheidungsprozesse des Managements sicherzustellen hat – und zwar gerade aus einer neutralen, das heißt nicht selbst in Projekte aktiv eingebundenen Position. Hierin besteht die eigentliche „Beratungsleistung“. Sie ist ungemein wichtig, aber eben doch materiell verschieden von der Rolle des Vorstands. Der Aufsichtsrat sollte die Rolle des Vorstands nicht vereinnahmen, sondern aus kritischer Distanz komplementär ergänzen, damit im Ergebnis hochwertige Entscheidungen im Unternehmensinteresse stehen und die nächste Unternehmensschieflage verhindert wird. Hiermit sind – zumeist nebenberuflich tätige – Aufsichtsräte bereits gut ausgelastet.
Zur Person
Prof. Dr. Jens Grundei ist seit 2012 Professor für Corporate Governance & Organization an der Quadriga Hochschule Berlin. Er forscht und berät zu strategischen Entscheidungsprozessen im Rahmen der Corporate Governance sowie zur Effizienzbewertung von Organisationsstrukturen.
Literatur
Grundei, Jens/Kaehler, Boris (2018): Corporate Governance: Zur Notwendigkeit einer Konturschärfung und betriebswirtschaftlichen Erweiterung des Begriffsverständnisses. In: Der Betrieb, 71. Jg., H. 11, S. 585-592.
Grundei, Jens/Graumann, Matthias (2021): Die Rolle des Aufsichtsrats im Strategieprozess. In: Der Betrieb, 74. Jg., H. 5, S. 181-189.
Jens Grundei studierte Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin und – als Stipendiat des DAAD – an der University of Illinois at Urbana-Champaign. An der Technischen Universität Berlin erfolgten 1999 die Promotion und 2005 die Habilitation für das Fach Betriebswirtschaftslehre. Vor seiner Berufung an die Quadriga Hochschule im Jahr 2012 war er an verschiedenen anderen Hochschulen als Dozent bzw. Professor tätig.
Als Leiter des Arbeitskreises „Organisation” der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft und als Mitglied der gfo – Gesellschaft für Organisation (2013-2016 im Vorstand) liegt ihm der Austausch zwischen Hochschule und Praxis auf dem Gebiet der Unternehmensorganisation besonders am Herzen.