
Herr Reckhenrich, Sie waren kürzlich wieder in einem Seminar des MBA Leadership und haben mit den Studierenden daran gearbeitet, anhand von Kunstwerken sowohl die Selbstreflektion als auch die Einschätzung von Potenzialen bei anderen zu verbessern. Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Bei Potenzialen sprechen wir von den grundlegenden Konditionen eines Menschen – also bin ich beispielsweise ein neugieriger Mensch oder wie sind Engagement und Entschlossenheit ausgeprägt. Wenn ich jetzt eine Person einfach fragen würde, wie die Neugier bei ihr ausgeprägt ist, zeigt die Erfahrung, dass man eher generische Antworten erhält oder irgendwas wiedergibt, was man mal dazu gelesen hat.
Anhand der Kunstwerke können wir aber tiefer in die Geschichte eines Menschen eintauchen und schauen, wie sich so etwas wie Neugier zeigt. Die Kunstwerke sind dabei wie ein Spiegel für die Leute. Zunächst sehen sie sich ganz in Ruhe in der Ausstellung um und wenn sie sich in einem Kunstwerk auf irgendeine, vielleicht auch ganz abstrakte Weise, wiedererkennen, dann wählen sie es für ihr Potenzialgespräch aus.
Dabei kommt es zu sehr überraschenden Momenten. Vor Jahren hat mal eine Führungskraft „Der Tod der Jungfrau“ von Rembrandt ausgewählt, was ich in dem Zusammenhang mit Potenzialgesprächen nie erwartet hätte. Für die Führungskraft war es wichtig, in jeder Situation für das Team da zu sein und so hat sie sich in dem Bild als die Person wiedererkannt, die der Frau auf dem Sterbebett das Kissen aufschüttelt.
Die Studierenden werden aber auch selbst künstlerisch tätig. Wie läuft das ab?
Im zweiten Teil des Seminars erstellen die Studierenden ein so genanntes Leporello. Das ist ein Faltbuch, in unserem Fall bestehend aus vier Seiten, die für die Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sowie den Purpose in der Biografie der Studierenden stehen. Zu den ersten drei Themen werden Bilder gemalt und zum Purpose ein zentraler Satz formuliert.
Bei dem Satz gebe ich den Studierenden immer mit, dass sie sowohl fünf Jahre zurück als auch in die Zukunft blicken sollen und der Satz auf beide Situationen passen sollte. Betrachtet man dann die Ergebnisse aus den Potenzialgesprächen gemeinsam mit dem vertiefenden biografischen Blick aus den Leporellos, ergibt das ein hochinteressantes Bild.
Wie ist die Idee zu diesem Seminar entstanden und wie wird es angenommen unter den Studierenden?
Jörg Ritter (Professor aus dem MBA Leadership, People & Organization) und ich kennen uns schon sehr lange und er kennt auch meine Arbeit als Künstler sowie die als Coach. Er ist jemand, der Lust hat zu experimentieren und für das Modul „Potential & Competence Leadership“ hat er eine Verbindung zu meiner Arbeit gesehen. Vor vier Jahren kam er mit der Idee auf mich zu, diesen künstlerischen Ansatz mit dem methodischen Rahmen zu verbinden, den er in seiner Tätigkeit bei Egon Zehnder nutzt – für uns war dann relativ schnell klar, dass das funktionieren kann.
Natürlich ist es ungewöhnlich, dass man sich in einem sehr intensiven MBA-Programm mehrere Stunden Zeit nimmt für künstlerische Tätigkeiten, aber das wird von den Studierenden als sehr wertvolle Erfahrung wahrgenommen. Speziell in der Leporello-Übung tauchen die Studierenden nochmal tief in die eigene Geschichte ein und lernen viel über sich selbst.
Dieses Jahr hat das Seminar zum ersten Mal online stattgefunden. Wie ist das gelaufen und was war vielleicht sogar besser als live?
Es war schon eine spannende Frage, ob diese explizite Auseinandersetzung mit Kunst, in der auch der Raum, der Betrachtungswinkel und die Zeit eine entsprechende Rolle spielen, in der digitalen Welt funktionieren kann. Sowohl bei den Dialoggesprächen, für die wie eine kleine PDF-Ausstellung kreiert haben, als auch bei der Erstellung der Leporellos, für die wir die Materialien nach Hause geschickt haben, sind richtig gute Ergebnisse erzielt worden.
Ob etwas digital besser ist, darum geht es für mich derzeit gar nicht – wir müssen es einfach tun. Dazu gehört auch ein Lernprozess, denn es zeigt sich, dass es im digitalen mehr Gestik und eine andere Tonalität braucht, um Nähe zu erzeugen. Dafür ist die Distanz in einem „normalen“ Raum zwischen den Leuten sehr unterschiedlich und per Video-Chat bei allen gleich, sodass man auch die Möglichkeit einer intensiveren Wahrnehmung hat.
Sie beschäftigen sich schon länger mit digitalem Lernen. Wie sehen Sie die Chance, dass sich digitale Formate auch nach der Pandemie dauerhaft durchsetzen?
Vieles hat auch schon vorher digital gut funktioniert – ob als Ersatz oder Ergänzung. Da kommt es einfach auf das Konzept an. Das Unternehmen TalentMiles hat beispielsweise eine Handy-App entwickelt, die Lernen als einen stetigen Prozess unterstützt. Die Gründer des Unternehmens kenne ich seit vielen Jahren durch die gemeinsame Arbeit in einem Business-School-Programm. Dort lief es immer so ab, dass man sich zu sehr intensiven Seminaren von zwei bis drei Tagen getroffen hat und darin alles durcharbeitet. Am Tag danach hat man schon die ersten Sachen wieder vergessen und nach kurzer Zeit sind um die 85 Prozent des Erlernten weg.
Mit dem neuen Konzept trifft man sich einmal zum Auftakt – ob live oder digital – und hat dann im Abstand von jeweils sechs Wochen zwei weitere Veranstaltungen. Das heißt, das Ganze wird auf drei Monate gestreckt und vom Auftakt bis zur Mitte bekommt man über die App von TalentMiles Aufgaben zugeschickt. Das kann so was sein wie „Führe ein Feedback-Gespräch nach Rosenberg und beantworte dazu fünf Fragen“. Wir als Learning Coaches sehen die Antworten und geben direkt Feedback dazu.
Der Ansatz ist also, dass man große Themen wie Potenzial- oder Feedbackgespräche in kleinere Schritte aufbricht, die Leute in die stetige Aktivität reinbringt und sie dabei begleitet – und das funktioniert einfach super. Da sehe ich auch einen riesigen Vorteil im Digitalen gegenüber „normalen“ Formaten, wo man sich zwei Tage trifft und dann ewig nicht mehr sieht.
Zum Schluss noch eine Frage zum Thema Leadership: Was brauchen moderne Führungskräfte?
Einerseits kann man klar sagen: Ohne Neugier wirst du nichts erreichen – weder in der Produktentwicklung noch in der strategischen Orientierung und auch nicht im Umgang mit anderen Leuten. Dazu gehört aber immer die emotionale Seite, das Empathische. Es geht gar nicht darum, nett zu sein, sondern um das bewusste Hinhören und eine gewisse Nähe – also ein ernsthaftes Interesse. Die Frage dahinter ist: Wie gestalte ich Qualität im Miteinander, im sozialen Raum? Neugier und Empathie sind da für mich die beiden Pfeiler.
Deswegen ist das mit dem künstlerischen Ansatz im MBA auch so spannend, weil bei den Gesprächen über die Kunstwerke geht es ja nie um richtig oder falsch, sondern man entdeckt einfach andere Sichtweisen, Interpretationen und dementsprechend ganz neue Aspekte. Und das ist ja die Grundhaltung, die wir den Studierenden für die Potenzialgespräche mitgeben wollen: Sie sollen das Andersartige suchen, auf die Überraschung achten und sich nicht davon leiten lassen, was sie vorher schon vermutet haben.
Zur Person
Jörg Reckhenrich ist Künstler, systemischer Berater und Lehrcoach. An der Quadriga Hochschule lehrt er in MBA-Seminaren sowie der Ausbildung zum Business Coach. Zudem steht er als Mitglied des Beirats People & Organization für die Umsetzung kreativer Ansätze der Lehre in digitale Formate. Dafür hat er, zusammen mit seiner Kollegin Marlen Nebelung, die Firma PParts gegründet. PParts ist die Verbindung aus positiver Psychologie und Kunst. Sein Credo ist: Online Lernen muss emotionaler und visueller werden.

Jörg Reckhenrich, Künstler, systemischer Berater, Adjunct Professor für Innovation (AMS) und Unternehmer.
Jörg Reckhenrich wurde 1961 in Münster geboren. Er studierte Kunst an der Kunstakademie. Seit 20 Jahren arbeitet er an der Schnittstelle von Kunst und Unternehmen. Er ist ausgebildeter systemischer Coach und Prozessbegleiter. Sein Ansatz in der Coachingarbeit verbindet drei Bereiche: die visuelle Arbeit aus seiner künstlerischen Praxis, der systemische Hintergrund und der Ansatz der positiven Psychologie.
Jörg Reckhenrich arbeitet in zahlreichen Business Schools wie der CEIBS (Zürich), IMD, LBS und AMS, zu Programm- themen wie Kreativität, Innovation und Creative Leadership.
Sein Coachingansatz beruht auf der Arbeit mit Kunstwerken, für den er einen speziellen Ansatz, Coaching vor Kunst, entwickelt hat. In Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung Egon Zehnder hat er ein Format zur Arbeit mit Potenzialdimensionen entwickelt, dass in einer Galerie durchgeführt wird.

Prof. Dr. Jörg K. Ritter ist Professor für Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Personal- und Organisationsentwicklung an der Quadriga Hochschule Berlin. In der Funktion hat er den Studiengang MBA Leadership & Human Resources ins Leben gerufen und zum MBA Leadership, People & Organization weiterentwickelt.
Seit 1994 ist er als Berater im Berliner Büro der Personal- und Unternehmensberatung Egon Zehnder tätig und fungiert heute als Senior Advisor. Bis November 2019 verantwortete er zudem als Co-Leader die Global Practice Family Business Advisory. Seit November 2017 ist er Vice Chairman des Advisory Boards der Hidden Champions Institute an der ESMT Berlin.
Zuvor war er Senior Associate bei McKinsey & Company und als Berater und Vorstandsassistent für die Treuhandanstalt Berlin und als Unterabteilungsleiter im Wirtschaftsministerium tätig.
Professor Ritter ist studierter Ökonom und wurde an der Hochschule für Ökonomie Berlin promoviert. Der Wissenschaft ist er seit vielen Jahren in seiner Funktion als Lehrbeauftragter an unterschiedlichen Hochschulen und als Beiratsmitglied in personalwirtschaftlich orientierten Masterstudiengängen verbunden.